Psychische Belastungen durch Lohnarbeit nehmen weiter zu – zur psychologischen Dimension des Klassenkampfes
Arbeitshierarchien machen krank
So stellte die sogenannte Whitehall-II-Studie, eine unter 10.308 britischen Beamten beiderlei Geschlechts durchgeführte Langzeituntersuchung, einen starken Zusammenhang zwischen der Position in der Arbeitshierarchie und der Krankheitshäufigkeit sowie dem Sterberisiko fest. Beamten am unteren Ende der Hierarchie wurden im Schnitt dreimal so häufig krank wie die Chefs, und auch ihr Sterberisiko war um das Dreifache erhöht. Da bei dieser Untersuchung die Einkommensunterschiede eher gering waren und die gesundheitliche Betreuung der untersuchten Personen vergleichbar, konnten diese beiden Faktoren als wesentliche Ursachen für die genannten Ergebnisse ausgeschlossen werden.Auch nach Berücksichtigung des Gesundheitsverhaltens in Bezug auf Ernährung, Sport, Rauchen etc. blieb die Kluft bestehen. Die Arbeitshierarchie selbst ist offenbar der wesentliche Faktor zur Erklärung der gravierenden Unterschiede in Krankheitshäufigkeit und Sterberisiko. Der mit einer niedrigen Position in der Arbeitshierarchie einhergehende Stress führt höchstwahrscheinlich zu erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten. Je geringer der Grad an Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und Kontrolle über die eigenen Tätigkeiten im Arbeitsleben, umso schlechter für die Gesundheit!
Prekarisierung und Leistungsdruck
Zwar ist die offizielle Arbeitslosigkeit im Verlauf der letzten zwei Jahre gesunken, dies ging jedoch einher mit einer starken Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und bedeutet daher für viele Menschen keine Verbesserung ihrer Lebensqualität. Laut Statistischem Bundesamt sind im Jahre 2010 drei von vier neuen Jobs in Rahmen prekärer Arbeitskontexte wie Leiharbeit, Mini- und Midijobs, Teilzeitarbeit und Werkverträgen entstanden. Die starken psychischen Belastungen, denen Beschäftigte in diesen Arbeitskontexten ausgesetzt sind, disponieren in besonderem Maße zu psychischen Erkrankungen. Es verwundert daher nicht, dass z.B. bei LeiharbeiterInnen das Krankheitsrisiko, einschließlich des Risikos der Entstehung psychischer Erkrankungen, höher ist als bei festangestellten Beschäftigten.Laut einer Auswertung der Techniker Krankenkasse (TK) hatten LeiharbeiterInnen in Deutschland im Schnitt 3,5 Krankentage pro Jahr mehr als andere ArbeiterInnen. Hierbei spielen neben den oftmals körperlich belastenden Jobs in der Leiharbeit auch psychische Belastungen eine wichtige Rolle. Die Fehlzeiten wegen psychischer Diagnosen sind bei LeiharbeiterInnen im Verlauf der letzten zwei Jahre um zwölf Prozent angestiegen. Im Jahr 2010 meldete sich im Schnitt jeder zweite Leiharbeiter aus psychischen Gründen zwei Tage krank.
Die niedrigere Position im Hierarchiegefälle im Vergleich zu den Stammbelegschaften, fehlende Arbeitsplatzsicherheit, häufige Wechsel der Einsatzorte, geringe Chancen zur Weiterentwicklung sowie schlechte Bezahlung machen viele Jobs in der Leiharbeit in besonderem Maße stressanfällig und zur seelischen Dauerbelastung für die Betroffenen. Die Leiharbeit ist im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent angestiegen und liegt nun mit über 900.000 Menschen knapp an der Millionengrenze.
Maximale Ausreizung
Auch bei ArbeiterInnen in traditionellen Beschäftigungsverhältnissen wird allerdings stark an der Leistungsschraube gedreht. Die sich ausbreitenden neoliberalen Konzepte zu Management und Arbeitsorganisation zielen darauf ab, bei möglichst geringen Kosten ein Maximum an Leistung aus den ArbeiterInnen herauszupressen. Eine im Rahmen des DGB-Index „Gute Arbeit“ durchgeführte Befragung kommt zu dem Ergebnis, dass immer mehr Beschäftigte unter dem gestiegenen Arbeitsvolumen, starkem Zeitdruck, erhöhten Leistungsanforderungen und daraus resultierender chronischer Erschöpfung leiden. Zunehmende Prekarisierung, stark angestiegener Leistungsdruck und Angst vor Arbeitsplatzverlust sind die Hauptursachen für den allgemeinen Trend der Zunahme seelisch bedingter Erkrankungen unter den Beschäftigten.Die Krankenkasse AOK gibt an, dass die Anzahl von Arbeitsausfällen aufgrund psychischer Erkrankungen im Zeitraum von 1999 bis 2010 um 69,7 Prozent angestiegen ist. Die Krankenkasse DAK wiederum berichtet in ihrem Report für das Jahr 2010, dass psychische Erkrankungen nach Muskel-Skelett-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Verletzungen mit 10,8 Prozent inzwischen die vierthäufigste Ursache krankheitsbedingter Arbeitsausfälle darstellen, bei Frauen sogar die dritthäufigste. Insbesondere „depressive Episoden“, „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ sowie „andere neurotische Störungen“ zählen zu den häufigsten Einzeldiagnosen.
Ein häufig unterschätztes Problem stellen laut DAK-Bericht Schlafstörungen dar. Fast jeder zweite Erwerbstätige berichtete, im Verlauf der letzten drei Monate zumindest manchmal nicht einschlafen oder durchschlafen zu können, bei jedem Vierten war dies sogar häufiger der Fall. Die Bereitschaft, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen, ist laut des DGB-Index „Gute Arbeit“ angestiegen, mehr als drei Viertel der Befragten berichteten, im Verlauf des letzten Jahres mindestens einmal trotz Krankheit zur Arbeit gegangen zu sein. Dieser Trend ist besonders stark bei ArbeiterInnen, die sich im Rahmen ihrer Arbeitssituation besonders unwürdig behandelt fühlen – oft Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die unter starker Angst vor drohendem Arbeitsplatzverlust leiden.
Die Anzahl der Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen hat sich ebenfalls stark erhöht, nach Angaben der Deutschen Rentenversicherungen um 71 Prozent in den letzten 18 Jahren. Damit stellen psychische Erkrankungen inzwischen die wichtigste Ursache für Frühverrentungen dar, insgesamt macht ihr Anteil 40 Prozent an allen Frühverrentungen aus.
Herausforderung im Klassenkampf
Eine klassenkämpferische Linke, die an den konkreten Problemlagen der ArbeiterInnen ansetzt, muss den stark angestiegenen Stress und das erhöhte Risiko der Entstehung seelischer Erkrankungen, welchen zunehmend mehr Beschäftigte ausgesetzt sind, ernst nehmen und sowohl wissenschaftlich und theoretisch reflektieren, als auch – und das ist das Wichtigste – in der Praxis adäquat darauf reagieren.Der Anarchosyndikalismus mit seiner Betonung von Solidarität und Selbstorganisation bietet eine bewährte praktische Perspektive, um der allgegenwärtigen Konkurrenz, dem zunehmenden Stress und Leistungsdruck, der Ohnmacht und Unsicherheit ein auf gelebter gegenseitiger Hilfe beruhendes Widerstandskonzept entgegenzustellen. Im Idealfall kann eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft als unterstützendes soziales Netzwerk fungieren, dass dazu beiträgt Stress, zu reduzieren, Solidarität zu erfahren und Gefühle der Ohnmacht abzubauen, indem die Menschen durch selbstorganisierte gewerkschaftliche Praxis wieder ein Gefühl der eigenen Wirkung erfahren. Diese psychologische Dimension des alltäglichen Klassenkampfes stärker zu reflektieren und bewusster in Theorie und Praxis einzubinden, wird zukünftig eine wichtige Herausforderung, nicht nur für den Anarchosyndikalismus, sondern für die gesamte klassenkämpferische Linke sein.
Autor: Werner Ehlen
Quelle: www.direkteaktion.org
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