4.05.2011

Angst vor dem »Tarifknast«

Berlin: Sparten- und Berufsgewerkschaften protestieren gegen Pläne, das Streikrecht einzuschränken. Koalitionsausschuß will heute über Tarifeinheitsgesetz beraten.

Es war ein buntes Bild vor dem Kanzleramt in Berlin. Einige hundert Gewerkschafter waren am Montag dem Aufruf des Deutschen Beamtenbundes (dbb tarifunion) und des Marburger Bundes (MB) gefolgt, um gegen die Pläne zu einem Tarifeinheitsgesetz zu protestieren, die heute im Koalitionsausschuß der Bundesregierung beraten werden. Viele dbb-Gewerkschaften hatten kleine Abordnungen geschickt, die mit ihren Organisationsfahnen und -jacken Präsenz zeigten. Stark vertreten war außer dem MB auch die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die sich derzeit in einer zähen Tarifauseinandersetzung um die einheitliche Entlohnung aller Lokführer befindet. Und auch die Freie Arbeiter­union (FAU) beteiligte sich an dem Protest gegen die geplante Einschränkung des Streikrechts.

Vor Beginn der Kundgebung wurden Angehörige einiger von den Gesetzesplänen betroffenen Berufsgruppen wie Flugbegleiter, Lokführer, Ärzte und Journalisten symbolisch in Ketten gelegt und in einen »Tarifknast« geführt. Genau dieses Szenario werde man mit allen Mitteln verhindern, betonte der Vorsitzende der dbb tarifunion, Frank Stöhr, in seiner Ansprache. Sparten- und Berufsgewerkschaften hätten sich vielfach bewährt und spielten in der Tariflandschaft eine wichtige Rolle. Ihr oft hoher Organisationsgrad habe gute Abschlüsse ermöglicht, die angesichts sinkender Tarifbindung in der deutschen Wirtschaft und anhaltender Umverteilung von unten nach oben auch eine Pilotwirkung für alle abhängig Beschäftigten haben könnten, so Stöhr. Daher sei es schwer erträglich, daß ausgerechnet der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) von der Bundesregierung verlange, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Gewerkschaftsrechte massiv einschränkt.

Der MB-Vorsitzende Rudolf Henke verwies auf den Charakter von Gewerkschaften in demokratischen Gesellschaften. Diese seien keine Körperschaften oder Kammern mit Monopolstellung und Zwangsmitgliedschaften, sondern freie Zusammenschlüsse zur Wahrung sozialer Interessen, von »denjenigen, die den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft erwirtschaften«. Henke verwies auf die entsprechenden Passagen im Grundgesetz. In Artikel 9, Absatz 3 heißt es: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.« Gesetzliche Regularien dürfen sich ferner »nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (…) geführt werden«. Es sei daher eine »Schande«, daß diejenigen, die diese Rechte konsequent und erfolgreich wahrnehmen, um eine »Neubesinnung bei der Wohlstandsverteilung« zu befördern, jetzt »plattgemacht werden sollen«, so Henke. Es sei auch ein Unding, daß sich jetzt ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Frank-Walter Steinmeier, als »Einpeitscher« für ein Tarifeinheitsgesetz betätige, indem er die Kanzlerin zum Handeln dränge.

Im Koalitionsausschuß soll heute über den Stand der Beratungen in den beteiligten Ministerien gesprochen werden. Im Mittelpunkt der DGB/BDA-Initiative steht, daß nur noch die in einem Betrieb mitgliederstärkste Gewerkschaft Tarifverträge abschließen darf. Statt Spartengewerkschaften mundtot zu machen, solle Angela Merkel »jetzt endgültig den Schlüssel für den Tarifknast wegschmeißen«, forderte der MB-Chef.

Quelle: Junge Welt

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